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03 Nov
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Den Einsatz von Künstlicher Intelligenz halten die meisten Unternehmen für relevant, die wenigstens tun es. Mit NeurologIQ will Simon Sack die KI auf Basis bildverarbeitender Software besonders in mittelständischen Unternehmen mit zugeschnittenen Lösungen zu überschaubaren Kosten voranbringen und die Qualität des maschinellen Sehens verbessern. Der junge Unternehmensgründer aus Siegen hat es damit geschafft, in das Beratergremium des chinesischen Elektroauto-Herstellers NIO einzuziehen, der Anfang Oktober auf dem deutschen Markt Premiere gehabt hat. Der Ritterschlag kommt für Sack zum richtigen Zeitpunkt. Er profitiert von einem Netzwerk und von einer wachsenden Aufmerksamkeit für sein Produkt, was die gerade begonnene Positionierung von NeurologIQ im noch jungen KI-Markt unterstützt.

3. November 2022 - Von Rüdiger Köhn, München

Mit 300 Zeichen kann Simon Sack unmöglich seine Geschäftsidee und sein Start-Up erklären. Deswegen hat der 26 Jahre alte Gründer des KI-Unternehmens NeurologIQ ein Fünf-Minuten-Video gedreht. Er hat es auf Youtube gestellt, den Link in das Freifeld seiner Online-Bewerbung kopiert und dazu geschrieben: „Wenn ihr mehr über mich erfahren wollt, klickt auf den Link.“ Wenige Wochen später, Ende August, fand sich Sack in einem Münchner Nobelhotel unter 50 neuen Mitgliedern, die an der konstituierenden Sitzung des User Advisory Board von NIO teilnahmen.

                         Simon Sack                                                                                 Foto NeurologIQ

Sack gehört zu einer ausgewählten, recht erlesenen Gruppe von Experten aus verschiedenen Branchen von E-Mobilität über Industrie bis zu Unternehmensberatern, die dem chinesischen Elektroautohersteller bei dessen Marktetablierung in Deutschland wertvolle Hilfe leisten sollen. Anfang Oktober hat das Schanghaier E-Auto-Start-Up des Gründers William Li im Berliner Tempodrom die Premiere des ersten angebotenen Modells ET7 gefeiert. Auch in anderen europäischen Ländern wie die Niederlande oder Norwegen gibt es solche Beratergremien, über die NIO ein smartes Instrument gefunden hat, kompetentes Knowhow einzusammeln. Simon Sack hat sich in dem Bewerberverfahren in Deutschland gegenüber Hunderten von Konkurrenten durchgesetzt. „Bei NIO bin ich der Typ von Youtube gewesen, der das System durchbrochen hat“, lacht er. Damit habe er sich interessant gemacht.

Der Alleingründer von NeurologIQ, die auf Basis intelligenter Bilderkennung und maschinellem Sehen Optimierungsprozesse anbietet, erlebt zur richtigen Zeit einen Hype; um sich und um sein im November 2018 in Siegen geschaffenes Unternehmen. Denn es tritt gerade in eine neue Phase der Markterschließung sowie der Skalierung, in der größere Bekanntheit und ein Netzwerk relevanter Gesprächspartner von unschätzbarem Wert sind. Er erhält bislang ungeahnte Aufmerksamkeit, wird von einem Interview zum anderen gereicht, tritt auf Kongressen auf. Im Berliner Tempodrom saß er bei der Premiere als Mitglied des Beratergremiums in der ersten Reihe neben William Li und dem Management. Im Internet auf diversen Kanälen übertragen, sei er gefühlt in „jeder dritten Sequenz“ zu sehen gewesen, lacht und freut sich Sack. Zudem gehört er zu den ersten Fahrern des NIO ET7, dem ersten auf dem deutschen Markt eingeführten Modell.  Er hat früh ein Auto reserviert. Nun fährt er sein „Traumauto“ im Monatsabonnement, vollgestopft mit Sensorik und intelligenter Software für autonome Fahrsysteme. „Die Technik reizt mich, ich liebe Künstliche Intelligenz.“ 

                                             NIO-Gründer William Li                         Foto NIO

Die ist sein Lebensinhalt, seine Mission und Vision. Nur 10 Prozent der Unternehmen würden KI verwenden, obwohl 70 Prozent sie als relevant einschätzten, zitiert Sack Statistiken. „Da gibt es eine Riesenlücke, die geschlossen werden muss.“ Mit NeurologIQ ist er dabei. „Wir müssen Pionierarbeit leisten, darüber sprechen und den Leuten die Angst davor nehmen.“ Es sei anfangs sehr schwierig gewesen, KI zu verkaufen, zu groß seien noch die Hemmnisse. Ihm geht es darum, die neue Technologie für mittelständische Unternehmen nutzbar zu machen, ohne dass diese eigene Abteilungen aufbauen und hohe Investitionen leisten müssen, dennoch Prozesse optimieren und beschleunigen, damit auch Kosten sparen können. 

Damit der Roboter richtig zupackt

Das fängt beim Transport von Materialien und fertiggestellten Gütern an. Im vernetzten Produktionsprozess (Internet of Things, IoT) müssen eingesetzte Roboter mit unterschiedlichen Größen der zu transportierenden Stücke fertig werden. Das Risiko ist groß, dass es beim Greifen und Platzieren (Pick and Place) zu Schäden kommt, weil der Arm falsch zupackt. Eine von NeurologIQ entwickelte Software kann mit einem Infrarot-Sensor unabhängig von den Lichtbedingungen die Stückgüter in Echtzeit dreidimensional erfassen. Die erhobenen Daten werden auf das lokale Netzwerk und an die Steuerung des Robotergreifers übertragen, der dann das Objekt richtig aufnehmen kann. Dabei wird nicht auf die im Unternehmen bestehende IoT-Software zugegriffen. Das angebotene KI-basierte System setzt also auf bestehende Infrastrukturen mit teil- oder vollautomatiserten Fertigungen auf. Daher kann dieses Prinzip vielfältig in allen denkbaren Abläufen eines Unternehmens genutzt werden. So auch gerade geschehen bei einem deutschen Biotech-Unternehmen, wo auf einer Anlage eine intelligente Software aufgesetzt worden ist, um die Bilderfassung zu verbessern, ohne dass neue Sensoren einzusetzen waren.

               Intelligentes Erfassen von Dreck auf einer Glasfassade                         Foto NeurologIQ 

Eine smarte Fensterreinigung ermöglicht die bedarfsorientierte Säuberung von Glasfassaden an Gebäuden. Die werden erst geputzt, wenn sie tatsächlich schmutzig sind und nicht - wie üblich - regelmäßig in Zeitabständen; ein beträchtlicher Kostenfaktor. So, sagt Sack, könnte mindestens eine Reinigung pro Objekt im Jahr gespart werden. Vernetzte Sensoren analysieren den Verschmutzungsgrad der Scheibe und werten die erfassten Bilddaten aus. Herkömmliche Kameras können nicht helfen, weshalb Sack einen Barcode-Scanner zweckentfremdet hat. Die erfassen nämlich Scharz-Weiß-Kontraste, ideal um angereichert mit KI die Flecken auf der Scheibe zu erkennen, zwischen Dreck, Schimmelpilz, Algen oder Schlieren zu unterscheiden. Die Auswertung wird in einer Webapp visualisiert. Ist ein festgelegter Verschmutzungsgrad errreicht, wird der Immobilienbetreiber über eine erforderliche Reinigung informiert. Mit einbezogenen historischen Daten ermöglicht die Software sogar eine Dreck-Prognose. Nutzbar ist die KI-Technologie auch für 3D-Sicherheitsanwendungen im Bereich von Zugangskontrollen. Aktuell arbeitet NeurologIQ an Projekten in der Landwirtschaft und in der Hotelbranche. Die sind noch zu frisch, um darüber sprechen zu dürfen.

Nukleus der NeurologIQ-Technologie ist die Bilderkennung und -verarbeitung oder, wie Sack es bechreibt, das maschinelle Sehen mit Farb-, Graubild oder 3D-Kameras. In ihnen ist die Software integriert, weshalb keine zusätzlichen, kostentreibenden Schnittstellen oder Rechenleistungen geschaffen werden müssen. Die erfassten Pixel hätten nicht nur einen bestimmten Farbwert (RGB), sondern enthielten auch Beschleunigungs-, Temperatur- und Geschwindigkeitswerte. „Das macht unsere Pixel und die dahinterstehende Software so vielseitig einsetzbar - und es versetzt uns in die Lage, das Sehen einer Maschine besser nachzuempfinden.“ Mit dieser deutlich erweiterten Basis unterschiedlicher Daten könnten etwa das Verrauschen von Bildern und Verwackelungen eliminiert werden.

Standardisierung als große Herausforderung 

Das sollte doch für einen Techie vergleichsweise simpel zu bewältigen sein. Tatsächlich hat Sack schon mit dem ersten Projekt Erfolge gehabt und Geld eingenommen, mit dem er sein junges Unternehmen aufbauen konnte, heute nur ein paar Family Offices als Vermögensverwalter reicher Familien aus der Region als weitere Geldgeber investiert sind. Die viel größere Herausforderung war, ein standardisiertes Verfahren für das Geschäftsmodell aufzusetzen. Es hat vier Jahre gedauert, damit die meiste Zeit und Energie in Anspruch genommen, die gesammelten Erfahrungen in einen strukturierten Prozess zu gießen. Bislang muss jeder Auftrag über zugeschnittene Einzellösungen erfüllt werden; jedes Projekt ist somit einzigartig, kann nur auf wenig sich wiederholende Kenntnisse zurückgreifen.

Treffen des User Advisory Board: Simon Sack (3.v.l.)      Foto NIO

NeurologIQ ist an einen Punkt angelangt, an dem es Sack und sein Team gelungen ist, ein Basismodell zu erstellen, auf dem viele Auftragsprojekte aufbauen können. Technisch gehört dazu eine Art „Klassifikator“ im Standardformat, der über Bildverarbeitung erkennt, um was für ein Objekt es sich handelt; um eine Flasche oder ein Paket, um gestapelte Metallplatten oder sogar um Personen. Wichtiger noch ist, dass ein strukturierter Ablauf im Prozess und Umgang mit Kunden in vier Schritten steht: die Analyse der zu bewältigenden Aufgabe als Grundlage für die technische Lösung; das Entwickeln eines Anwenderfalls (Use Case) sowie die Simulation und sinnvolle Einbindung in die Abläufe des Unternehmens; die konkrete Umsetzung mit der Implementierung von Software und Hardware einschließlich der Begleitung nach dem Projektstart. „Mag jeder Use Case auch noch so individuell sein, wir fangen nicht mehr bei Null an“, sagt Sack. „Wir haben Architekturen entwickelt, die wir immer wieder verwenden können.“

Damit muss ein Auftraggeber nicht von vornherein für ein Gesamtpaket zahlen. Die Arbeit wird nach Meilensteinen vergütet. Das ist entscheidend für eine notwendige Skalierung: „Unsere Aufgabe ist es jetzt, dieses standardisierte Verfahren in ein klares Produkt zu verpacken.“ Zurzeit kann NeurologIQ mit seinen 20 Voll- und Teilzeitmitarbeitern drei Kundenaufträge parallel bearbeiten.

Kompromisslose Lebensphilosophie

Mit Martin Benkner und Marcão da Costa Zuzarte, beide Geschäftsführer kamen im Frühjahr 2021 zu NeurologIQ, treibt Sack das Start-Up voran. Der ehemalige Banker Benkner kümmert sich um die Finanzen. Costa Zuzarte hat als Digital-Stratege die Verantwortung für die operativen Geschäfte übernommen. Beide sind angestellt, nicht Mitgründer. Simon Sack pflegt eine kompromisslose Lebensphilosophie, die durch Individualität, klare Vorstellungen, von Selbstsicherheit, Zielstrebigkeit, Willenskraft und einem entschlossenen Anpacken gepägt ist. „Ich habe mit meinem 18. Lebensjahr meinen eigenen Taler verdient; ich bin für mich allein zuständig und verantwortlich“, sagt er. „Deshalb habe ich Dinge immer erst gemacht und dann darüber gesprochen.“

Reiner Selbstschutz: „Damit die mir das nicht madig machen und ich selbst die Erfahrungen sammle.“ Vom Naturell her habe er einen sehr starken Vorwärtsdrang. „Ich renne sehr schnell nach vorne, habe immer eine Vision vor Augen“, beschreibt er sich als Visinonär und Macher. „Deswegen bin ich wahrscheinlich Einzelgründer.“ Einmal abgesehen davon, dass ihm so viel im Kopf schwirrt, was er dann nicht sofort in Worte fassen kann. „Ich sehe und fühle vieles auf einer anderen Ebene, die man nicht sofort vermitteln kann.“ Um so dankbarer ist er, dass die Mit-Geschäftsführer Benkner und Costa Zuzarte die Vorstellungen auffangen und verarbeiten. Sack betont aber genauso, dass er deswegen noch lange nicht ein Machtmensch sei, der neben sich niemand dulde; im Gegenteil. 

Der Tech Punk

Schon mit 18 Jahren ist er selbständig gewesen, als er 2014 mit Refraction Light Design sein erstes Unternehmen gründete, das Veranstaltungs- und Lichttechnik für Parties anbot. Am Ende inszenierte er als Lichtdesigner die Lichtshows bekannter Gruppen bis hin zu Punk Bands für Rock am Ring. Die Affinität zu ihnen scheint groß: Simon Sack bezeichnet sich als „Tech Punk“. Bis Ende 2020 betrieb er sein erstes Unternehmen, während er schon zwei Jahre NeurologIQ aufgebaut hatte und er 2019 an der Universität Siegen den Bachelor in Informatik mit Schwerpunkt Vision Computing (digitale Bildverarbeitung) machte.

Parallel zum Studium verdiente Sack als freier Software- und IT-Mitarbeiter ab 2017 bei der ZF Group am Standort Siegen Geld. Dort war er zum Beispiel mit Füllstandsmessungen mittels 3D-Kameras befasst und machte Qualitätsdefizite in den Messmethoden aus. Das müsste doch durch ein mit KI antrainiertes Modell verbessert werden können, dachte er sich. Da er mit teuren Maschinen hantierte, gründete er wegen der notwendigen eingeschränkten Haftung eine GmbH; die Geburtsstunde von NeurologIQ. Alles ganz spontan: „So ist es oft bei mir“, grinst Sack. „Ich gehe unbedarft nach Bauchgefühl ran, aber mit kalkuliertem Risiko; da hat es noch nie eine Enttäuschung gegeben.“ ZF ist auch heute noch sein Kunde, ebenso wie er Batterie- und Akkuhersteller Varta dazu gehört.

Geben und Nehmen mit NIO

Unbedarft und schwerelos ging er denn auch die Bewerbung um den unbezahlten, aber reputationsfördenden Beraterjob bei NIO an. Er habe das Gefühl, eine Marke mitzugestalten, aktiv auf die Technologie und Produktverbesserungen einzuwirken, wenn er etwa um das autonome Fahren herum mit seinem KI-Wissen Input geben kann und direkten Zugang zu den Entscheidungsträgern von Nio hat. Das sei ja der Sinn des User Advisory Boards. Dass NIO und sein Gründer Li so clever und kostenlos Wissen abgreifen können, stört Simon Sack nicht. Es sei ein Geben und Nehmen, ein „Tauschgeschäft“. Er bekomme schließlich ebenfalls Input, lerne viel aus den Gesprächen mit NIO und den Experten im Netzwerk, die für sein Start-Up hilfreich sein können.

Der Zeitpunkt kann für ihn gar nicht günstiger sein. „Wir arbeiten jetzt an der Markenbildung und der Positionierung von NeurologIQ; dazu müssen wir das Markenvertrauen und einen Expertenstatus aufbauen.“ Durch NIO komme zusätzlich richtig Schwung rein. Das sei ein Optimalzustand, den man wertschätzen müsse - und den sich Simon Sack bis vor wenigen Monaten nicht vorstellen konnte: „Bei uns fragen jetzt Leute an, ob sie mit uns zusammenarbeiten dürfen.“

https://www.neurologiq.com/

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