6 Minuten Lesezeit
13 Sep
13Sep

Peer Schulz hat viele Gegner. Genau genommen sind es mehr als 200 Versicherungsunternehmen, die - höchtsrichterlich bestätigt - über 108 Millionen falsche Lebensversicherungsverträge mit Kunden abgeschlossen haben. Schulz hat das gefuchst und die digitale Verbraucherplattform helpcheck.de für Rechtsstreitigkeiten gegründet. Mit Phil Sokowicz hat er eine Kanzlei-Management-Software entwickelt, die massenweise Rechtsansprüche von Klienten geltend machen kann. Sie werden so zum Schreck für die Assekuranzen. Nun nehmen sich die Gründer neue lukrative Felder wie Arbeitsrecht, Mietrecht oder Online-Glücksspiele vor.

13. September 2022 - Von Rüdiger Köhn, München

Er sei weder Legal noch Tech, lacht Peer Schulz. Dabei hat er 2015 zu einer Zeit die Idee eines Start-Up auf dem Rechtsgebiet entworfen, als es den Begriff LegalTech noch gar nicht gegeben hat. Schulz, 33 Jahre, hat indes mit Jura wenig am Hut gehabt, mal abgesehen vom Pflichtprogramm Wirtschaftsrecht im Rahmen seines Studiums der Betriebswirtschaft. Als „klassischer Betriebswirt“ ist er auch nicht gerade Hardcore-Techie. Obwohl:  Einen Hang zu Computer, IT und Software hat er schon immer gehabt. Während des Studiums hatte er sogar in Indien bei einem Softwareentwickler gejobbt und Homepages gebaut. Aber Codes schreiben, programmieren? Nie. 

Heute lautet sein Anspruch: „Ich versuche, die Welten von Jura einerseits, Technologie und Digitalisierung andererseits zusammen zu bringen.“ Das ist Herausforderung genug. Denn Software-Entwickler hätten keinen Draht zum Recht, Juristen verspürten wenig Lust, sich mit Einsen und Nullen auseinanderzusetzen, so Schulz. Er hat mit seinem gleichaltrigen Freund und Kommilitonen Phil Sokowicz, ebenso Betriebswirt, Anfang 2016 in Düsseldorf die digitale Rechtsplattform helpcheck.de gegründet. Sie setzt Ansprüche von Verbrauchern durch und soll den Menschen einen einfachen Zugang zur Juristerei ermöglichen, die für viele immer noch vorhandene Hemmschwelle vor Gerichten senken. helpcheck hat ein eine Software entwickelt, um Rechtsfälle automatisiert in hoher Zahl durchzuziehen - sei es über einen außergerichtlichen Vergleich, sei es vor dem Kadi.

                              Peer Schulz                                                                                               Fotos helpcheck

Schnell drängt sich die Analogie zu anderen Internet-Plattformen wie Flightright (Entschädigungsansprüche gegenüber Fluggesellschaften) oder MyRight (VW-Abgasskandal, Miet-, Arbeits- oder Reiserecht) auf. Sie vertreten oder sammeln Ansprüche von Verbrauchern, die wie am Fließband verfolgt werden. Massengeschäft betreibt auch helpcheck. Doch die Plattform ist anders konzipiert und weitergehend. Die beiden helpcheck-Gründer haben eine umfassende Management-Software für Anwaltskanzleien als Grundlage für eine Digitalisierung entwickelt - in einer Branche, die in für Schulz die wohl rückschrittlichste in dieser Angelegenheit ist. Es geht um das Erstellen von Klagen, Dokumenten und Vorlagen, um die Aufgabenverwaltung, die Klientenbetreuung, um das Management von Fristen und Gerichtsterminen, aber vor allem um die automatisierte Analyse von gerichtsverwertbaren Fällen auf Basis von intelligenten Algorithmen.

Kampf gegen 200 Versicherer ...

Als SaaS-Abo (Software-as-a-Service) oder in Lizenz soll das System jedoch nicht vertrieben werden. Das haben die Gründer durchaus erwogen, als sie erkannten, was sie im sechs Jahre währenden Aufbau aus eigener Kraft geschaffen haben. Aber: „Wir sind keine Software-Firma“, sagt Schulz. „Unser Fokus ist darauf gerichtet, ein digitales Verbraucherportal aufzubauen.“ Das beschäftigt sich primär mit Rechtsansprüchen von Versicherten gegenüber Assekuranzen, die zwischen 1994 und 2007 fehlerhafte Lebensversicherungsverträge verkauft haben - ein Quell grenzenloser Geschäfte, wie es scheint.

... mit 108 Millionen Lebensversicherungen

In den Verträgen sind falsche Klauseln eingebaut, Widerrufsbelehrungen unzulässig kenntlich gemacht oder Fristen für den Widerruf unkorrekt gesetzt. Jahrelange juristische Auseinandersetzungen zwischen Versicherern und Versicherten mündeten 2015 in einem Urteil des Bundesgerichtshofes, das den Verbrauchern ein unbefristetes Widerspruchsrecht dieser Verträge eingeräumt hat. Damit können Beiträge zurück- und Schadenausgleich eingefordert werden. Betroffen sind mehr als 108 Millionen Verträge, die über 200 Versicherer in Deutschland verkauft haben. Von diesen ist erst ein kleiner Teil bislang widerufen worden, geschweige denn eine Rückzahlung erfolgt. Jeder Vertrag muss schließlich eingeklagt werden.

Das BGH-Urteil weckte in Schulz unbändige Neugierde, als er gerade das Studium abgeschlossen hatte. Er fragte im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis herum, musste aber feststellen, dass es wenig Bereitschaft gab, gegen Versicherer zu klagen. Zu geringe Erfolgschancen, hieß es immer. Oder: Die Versicherer seien sowieso mit ihren Anwälten überlegen. Der „klassische Betriebswirt“ mit wenig Bezug zum Jura und zu Codes fragte sich: Lässt sich ein rechtliches Vorgehen automatisieren, wenn es um so gewaltige Mengen von Ansprüchen und potentiellen Klagen geht? Das Flightright-Modell hatte er vor Augen.

          Phil Sokowicz (links) mit Peer Schulz

Mit Start-Ups liebäugelte Schulz schon im Studium, sprach immer wieder in seiner WG darüber. Deren Mitbewohner gingen in Vorleistung und gründeten die Firma Just Spices, während Schulz noch den Master im Management machte. Das spornte ihn zusätzlich an. Er wusste, dass er etwas eigenes aufbauen will. Was, wusste er bis dato allerdings nicht - bis der BGH gesprochen hatte. „Ich fand es herausfordernd, Prozesse in der Rechtsprechung zu digitalisieren und zu skalieren“, sagt er. „Gleich zu Beginn der Suche nach Partner-Anwälten haben wir gesehen, wie wenig digital es dort zugeht.“ Zunächst dachte Schulz an eine Internet-Vermittlerplattform mit Kundenverwaltung und Weitergabe an Anwaltskanzleien. Daraus geworden ist mit einem intelligenten System wesentlich mehr, auch wenn es nicht selbstlernende Künstliche Intelligenz einsetzt.

Längst ist helpcheck nicht nur Vermittler von Rechtsansprüchen, sondern auch Konkurrent von Anwälten. 2018 - zwei Jahre nach offiziellem Start - gründete Schulz in Frankfurt das Anwaltsbüro HW Legal. Das ist eigenständig und gesellschaftsrechtlich getrennt von helpcheck geführt, da in Deutschland nur zugelassene Berufsträger eine Kanzlei betreiben dürfen. HW Legal übernimmt mittlerweile die meisten Fälle, aktuell laufen zwischen 2000 und 3000 Verfahren. Das Portal kam von Anbeginn so gut an, dass die angeheuerten Partner-Anwälte mit der Bearbeitung der Fälle nicht hinterherkamen. „Wir mussten selbst eine Kanzlei gründen, die exklusiv mit unserer Software arbeitet und speziell auf unsere Anforderungen zugeschnitten ist.“

Jährlich 15.000 Anfragen

Da die Jung-Unternehmer als Betriebswirte und Nicht-Juristen selbst nicht gründen durften, suchten sie über ihr Investoren-Netzwerk Anwälte, die HW Legal aufgebaut haben. Schulz spricht salopp von einer „inkubierten Kanzlei“. So beauftragen Geschädigte helpcheck mit der Mandatsbetreuung mitsamt Kundenverwaltung und betraut HW Legal mit der rechtlichen Durchführung. „Das ist alles ganz sauber und strikt getrennt.“ 

Im Zusamenhang mit Lebensversicherungen gibt es im Jahr mehr als 15.000 Anfragen. „Jeder zweite Kunde, dessen Fall geprüft wird, beauftragt uns auch mit der Betreuung.“ helpcheck beschäftigt zehn Mitarbeiter, HW Legal gerade einmal ein Dutzend. Nur mit Automatisierung lassen sich solche Klage-Tsunamis bewältigen. Zu Beginn aber, so die Vorschrift, muss es immer eine Sichtprüfung des Vertrages geben, klassifiziert durch einen Juristen. Dazu gibt es einen Katalog über 30 Fragen, die jedoch keiner juristischen Würdigung bedürfen. Erfasst werden relevante Daten wie Vertragspartner, Jahr des Abschlusses, Art der Lebensversicherung; gibt es eine Widerspruchsfrist von 14 statt der vorgeschriebenen 30 Tage; ist die Widerspruchsklausel textlich hervorgehoben oder hinten im Kleingedruckten versteckt? Die Klassifizierung dauert pro Fall zwischen drei und fünf Minuten. 

In der Matrix 800 Urteile hinterlegt

„Wichtig ist, dass der Input von einem Juristen erfolgt.“ Die Daten werden eingegeben. Die Software prüft. Sie sortiert Fehlerkategorien und -konstellationen, wägt Plausibilitäten ab. In der Matrix sind inzwischen mehr als 800 Urteile hinterlegt, die mit jeweiligen Verträgen abgeglichen werden. Daraus entstehen am Ende Schriftsätze. Der Computer spuckt den formulierten Rückzahlungsanspruch oder die Klage aus. Erst möglich wird die Automatisierung, weil es sich bei den Lebensversicherungen um Massengeschäft handelt, die Verträge im Grundsatz gleiche Inhalte haben und in der Struktur standardisiert sind.

So hat helpcheck bislang Gesamtrückforderungen von mehr als 50 Millionen Euro durchgesetzt. Von dem Mehrwert (also Zahlungen, die über die geleisteten Beiträge Entschädigungen enthalten) streicht helpcheck ein Erfolgshonorar zwischen 29 und knapp 40 Prozent ein. Es lässt sich nur erahnen, wie groß das Potential ist. Pro Vertrag kann ein Anspruch im Durchschnitt von 10.200 Euro gestellt werden, hat einmal die Allianz als führender Anbieter von Lebensversicherungen kalkuliert. Nicht zuletzt wegen des enormen Volumen verhielten sich die Assekuranzen renitent und verweigerten außergerichtliche Einigungen.

Druck auf Versicherer wächst

„Als wir anfingen, haben nicht einmal fünf Prozent der Unternehmen die Forderungen von Klienten ohne das Einschalten eines Gerichts akzeptiert“, sagt Schulz. „Jetzt beträgt die Quote 45 Prozent.“ Also fast jeder zweite angemeldete Anspruch wird außergerichtlich geklärt, Tendenz stark steigend.  „Noch immer aber gibt es viele Versicherer, die es auf ein Klageverfahren ankommen lassen.“ Noch mehr setzen darauf, dass Geschädigte zu viel Respekt vor Richtern haben und stillhalten. Doch der Druck wächst. Daran arbeitet helpcheck.

Der Fokus ist vom Start an auf Lebensversicherungen gerichet gewesen. Doch haben Schulz und Sokowicz bald nach dem Hochlauf wegen der Ähnlichkeiten in der Vertragsstruktur auch Immobilienfinanzierungen und Kreditverträge ins Programm genommen. Seit Ende 2021 erschließen sie neue Felder wie das Arbeitsrecht (Abfindung bei Kündigungen), die Durchsetzung der Mietbpreisbremse, die Abwehr von Bußgeldbescheiden oder das Abwickeln von Verkehrsunfällen. Es sind Rechtsgebiete, in denen viele Fälle vergleichbar sind und daher standardisiert abgearbeitet werden können. 

Nun auch Online-Glücksspiele

Nun nimmt sich das LegalTech das Thema Online-Glücksspiele vor. Bis Mitte 2021 waren Internet-Casinos verboten und sind es weitgehend auch heute noch. Daher gibt es juristisch die Möglichkeit, erlittene Verluste aus Online-Glückspielen zurückzufordern. Die entwickelte Kanzlei-Management-Software deckt viele Arbeitsprozesse ab, unabhängig von den Themengebieten. Zwar habe helpcheck schon früh profitabel gearbeitet, sagt Schulz. Aber das Geld werde in die aktuell laufende Wachstumsphase mit verstärktem Marketing und Vertrieb sowie dem Ausbau des Portfolios reinvestiert, für die neue Mitarbeiter und Fachanwälte angeheuert werden müssen.

Peer Schulz setzt augenzwinkernd darauf, dass helpcheck einmal zum „check24 für verschiedenste Rechtsgebiete“ expandiert. Und er setzt darauf, dass der verkrustete und stark regulierte Markt aufbricht. Da könnte zum Beispiel das Fremdbesitz-Verbot einmal kippen, womit sich Investoren an Kanzleien beteiligen dürfen, wie es bei Arztpraxen geschehen ist. Das würde die Zusammenarbeit mit HW Legal deutlch vereinfachen. Das könnte aber auch neues Potential schaffen, wenn Investoren in Kanzleien einstiegen und Geld für die helpcheck-Software in die Hand nähmen, kalkukiert Schulz.

Ein Start-Up-Nerd

Er schreckt tatsächlich nicht davor zurück, sich als Nerd zu bezeichnen, wenn auch nicht im Sinne eines Programmier-Freaks im Keller. Es sind die Start-Ups, die es ihn angtean haben. Als er die Idee für das LegalTech hatte, brauchte er Kumpel Phil Sokowicz nicht lange zu überzeugen, auch er würde ein wenig nerdig sein. Beide tickten ähnlich, grinst Schulz. Er aber geht noch weiter, da er Gründer-Investor für andere Start-Ups ist. Er ist bei Storypod (Audiogeschichten für Kinder) und Unitplus (Bezahlplattform für Investments) dabei. 

Lehrgeld musste er indes zahlen. Im Masterstudium kam ihm der alles andere als geniale Einfall einer App, mit der sich Freunde und Bekannte zum Grillen oder Chillen verabreden sollten. Das fand bei Investoren Null Anklang, klarer Daumen nach unten. Aber so lernte Schulz einen Seed-Investor aus Liechtenstein namens Vtech AG kennen. Er sei ein toller Typ, so einen suchten Investoren, gab der Venture Capitalist ihm damals auf den Weg. Er solle sich gerne melden, wenn er eine - bessere - Idee habe. Geht doch: Der Liechtensteiner ist in helpcheck investiert.

https://www.helpcheck.de

Kommentare
* Die E-Mail-Adresse wird nicht auf der Website veröffentlicht.