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01 Jun
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Drei Doktoranden und ein Professor der TU München haben eine Sprachanalyse entwickelt, die über Künstliche Intellgenz Emotionen, Gefühle, Charaktereigenschaften und sogar Krankheiten wie Alzheimer oder Demenz erkennen. Ein wissenschaftlcher Durchbruch, der auch wirtschaftlichen Erfolg verspricht. Dazu aber musste mit Dagmar Schuller erst einmal eine energische Frau kommen, um die Männer zu ihrem Glück zu zwingen. Sogar Apple und Google sollen aufgehorcht haben.

31. Mai 2021

Ist die Stimme nicht das neue Blut? Dagmar Schuller stellt in ihrem unnachahmlichen Wiener Dialekt eine rhetorische Frage. Sie weiß, dass viele Emotionen, Charaktereigenschaften, Befindlichkeiten, Krankheiten zu hören sind. Nicht nur über Husten, Räuspern oder Niesen, sondern durch künstliche Intelligenz, die über mehr als 6000 Merkmale Symptome detektiert. Alzheimer, Parkinson, Demenz, Fettsucht, Depressionen und Burnout lassen sich schon im frühen Stadium über Veränderungen in der Stimme erkennen. Leichtestes, von Ohren nicht wahrnehmbares Zittern oder holperiges Wechseln von Vokalen zu Konsonanten decken Anomalien auf. Analog zum Blut, in dem Biomarker Krankheitsbilder feststellen, spricht Schuller von „Stimmen-Biomarkern“.

Schuller ist Vorstandsvorsitzende und Mitgründerin von audEERING. Das Unternehmen aus Gilching bei München bietet eine Software-Plattform an, mit der Rechner oder Apps über Sprache, Klang sowie Tonlage Emotionen und gesundheitliche Symptome aushorchen. Bisher ist die intelligente Audioanalyse etwa für die Marktforschung, von Anbietern von Spielekonsolen oder der Autoindustrie genutzt worden. Der Gesundheit bekommt indes immer mehr Bedeutung. 

Bürokratische Vorbehalte gegen Corona-Test

Seit vergangenem Jahr entwickelt audEERING einen Corona-Test, der über das Mikrofon im Smartphone anhand der Stimmenanalyse eine Infektion mit Covid-19 feststellen kann (siehe auch: Die Stimme verrät Corona vom 16. März 2021). Bislang kämpft audEERING damit gegen das bürokratische System der öffentlichen Hand und deren ablehnende Haltung, vor allem mit Blick auf den Datenschutz an (siehe Update unten).

     Das Dreamteam: Dagmar Schuller und Florian Eyben                                                            Foto Rüdiger Köhn 

Schuller, 45 Jahre, spricht mit einer Inbrunst über die Technologie, als hätte sie sie geschaffen. Weit gefehlt: Florian Eyben, Martin Wöllmer und Felix Weninger sind die Ersten gewesen, die sich an der Technischen Universität München (TUM) damit befasst haben. Sie forschten an der intelligenten Spracherkennung; zu einer Zeit, als Videoerkennung mit dem Verfolgen von Augenbewegungen noch im Fokus stand, Da befanden sich Siri und Alexa aber schon ante portas. Leiter des Lehrstuhls ist Björn Schuller, der Ehemann von Dagmar Schuller. Er ist Doktorvater der ersten Doktoranden am Lehrstuhl Mensch-Maschine-Kommunikation gewesen.

„Ich bin an allem schuld“, gesteht die ausgebildete Informatikerin, ohne deren Begeisterungsfähigkeit es audEERING nicht geben würde. Studiert hat sie Wirtschaftswissenschaften an der Universität Wien, absolvierte an der L. Stern School of Business in New York Wirtschaftsinformatik und internationales Management, holte sich den Titel der Rechtswissenschaftlerin an der Ludwig-Maximilian-Universität in München, war mit 22 Jahren „jüngste Mangerin“ in der Beratungs- und Prüfungsgesellschaft Ernst & Young (heute EY) in New York. Digitalisierung hat sie das gesamte Berufsleben begleitet. Nerd ist sie nicht, das sind die anderen.

Überzeugungsarbeit im Café

In endlos anmutender Überzeugungsarbeit hat sie die drei Studenten plus Ehemann zu ihrem Glück zwingen, sie aus dem Elfenbeinturm der TUM rausholen müssen. audEERING wurde schließlich am 27. Dezember 2012 gegründet. „Ich hatte große Ideen“, schwärmt sie heute noch. „Aber auf große Resonanz bin ich zunächst nicht gestoßen“, erinnert sie sich an eines von zahllosen Gesprächen im Café Hoover & Floyd in der Münchner Ludwigvorstadt. „Ihr macht so coole Sachen, verfasst aber nur wissenschaftliche Veröffentlichungen“, rüttelte sie das Quartett auf, zunächst vergebens: „Eins zu Vier“, lacht sie, stand allein mit ihren Plänen einer Gründung da.

Die drei Probanden dachten an ihre Promotion und wollten kein Risiko eingehen. „Mir lag schon immer daran, anwendungsbezogen zu forschen“, sagt Technologievorstand Florian Eyben, 37 Jahre alt. Der Nutzen spielt für ihn eine große Rolle. „Wir analysieren Emotionszustände nicht anhand von dem, was Menschen sagen, sondern wie sie es sagen.“ Dennoch drehte sich die Gedankenwelt lange Zeit um die Forschung; es fehlte schlicht der Zugang zur realen Welt eines Start-Ups. 

Allround-Expertise ergänzt Genialität 

Heute sind Schuller und Eyben der Kern des Unternehmens. Sie ergänzen sich von den Befähigungen und von den Aufgaben her: sie im Allround-Wissen über Wirtschaft, Unternehmen, Märkte, Strategien und Juristisches; er ein genialer, in der Wissenschaft viel beachteter Forscher, der 2013 an der TUM sein Elektrotechnik-Studium mit Schwerpunkt digitale Signalverarbeitung abschloss und promovierte.

Und in noch etwas gibt Antrieb. Die Temperamente können nicht unterschiedlicher sein. Die „Dynamikerin“ (Schuller) hat nichts gemein mit dem ruhigen, eher introvertierten Eyben, der sich jedoch nicht unterbuttern lässt, auch wenn ihre Wortanteile eindeutig überwiegen. Mitgründer Martin Wöllmer, 38 Jahre und Informatiker, ist als Innovationsvorstand (CIO) der Dritte im Bunde. Er macht den Job nebenher und arbeitet hauptberuflch bei BMW. Elektrotechniker Felix Weninger, 36 Jahre, entschied sich vor zwei Jahren aus dem Team auszuscheiden und einer anderen Tätigkeit nachzugehen. Er ist jedoch Anteilseigner geblieben. Auch Björn Schuller, 46 Jahre, ist Miteigner, hält sich jedoch komplett raus. Es gebe eine strikte Trennung, stellt seine Ehefrau klar, um krumme Gedanken von Neidern über etwaige Mauscheleien im Keim zu ersticken.

Start in die Kommerzphase

Das Duo Schuller/Eyben ist es, das audEERING – ein Kunstname für „Intelligent Audio Engineering“ – nun in die neue Phase einer Kommerzialisierung überleitet. Ein eingeschworenes Team, besonders seit Schuller Anfang 2017 vollberuflich als Vorstandschefin eingestiegen ist. Bis dahin hat sie die Aufgabe als Zweitjob zu ihrer Arbeit als Managerin für eines der Jungunternehmen im Verlagshaus Hubert Burda gemacht. Ein entscheidender Schritt war 2018 der Einstieg der dänischen GN Store Nord, einem Anbieter von Hörsystemen, Diagnosegeräten und Freisprecheinrichtungen. Zunächst war wieder Überzeugungsarbeit mit Emphase gefordert, bevor das Männerquartett Schullers Plan absegnete.

Bislang finanzierte sich audEERING durch Projektgeschäfte, etwa für das Marktforschungsinstitut GfK, das mit der Technik die Akzeptanz neuer Produkte testet. „Wir müssen in das Produktgeschäft rein und unser Modell skalieren“, kündigt die Chefin ein breiteres, vielfältigeres und standardisiertes Angebot an. Weitere konkrete Anwendungen und professionellere, marktorientierte Strukturen sind nötig; auch im eigenen Haus mit mehr als 70 Mitarbeitern aus 15 Nationen vor allem aus dem Bereich der Software-Entwicklung. Dafür sei ein strategischer Partner erforderlich gewesen, kein Risikokapitalgeber.

Emotionen in Computerspielen

In der Unterhaltungselektronik wird Sprachanalyse ein Teil in Computerspielen. Neben Reaktionsgeschwindigkeit bestimmen emotionale Elemente der Spieler das Wettkampfergebnis mit. Sprachassistenten wie Alexa oder Siri könnten nicht mehr einfach Befehle entgegennehmen, sondern werten die emotional aus und wählen etwa die passende Musik zur Stimmungslage aus. Im Auto könnte ein übermüdeter Fahrer gewarnt, auf Raumfahrtmissionen Astronauten ferndiagnostiziert, Stimmungsschwankung oder gar ein drohender Herzinfarkt eines Piloten festgestellt werden.

Neben GfK ist auch Marktforscher Ipsos zu den Kunden gestoßen, zu denen BMW, Daimler, Huawei oder Red Bull gehören. Sogar Google und Apple haben aufgehorcht. „Glauben tut es niemand, aber wir waren die Ersten“, sagt Schuller. „Nicht die Amerikaner, nicht die Chinesen.“ Sie strahlt – und hat einiges vor mit audEERING. Die vier Nerds muss sie längst nicht mehr überzeugen.

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Update zum Corona-Test

Die gute Nachricht zuerst: Mehr als 10.000 Sprachtests von freiwilligen "Stimmenspendern" hat audEERING bislang gesammelt und damit das Fundament für die Analyse und die Umsetzung eines Corona-Stimmentests verbrietert. Doch die Hoffnung, dem Marktstart im Sommer näher zu kommen, haben sich zerschlagen. Frustration klingt heraus, wenn Vorstandschefin Dagmar Schuller über ihre Erfahrungen mit den Behörden spricht.

"Leider hat das Bundesgesundheitsministerium beschlossen, insbesondere aus Datenschutzgründen keinen Link von der Corona-Warn-App zu unserem Soundportal herzustellen und den Stimmentest nicht zu verwenden." Nach dessen Auffassung sei es nicht mit dem Ziel der Corona-Warn-App, nämlich dem Nachverfolgen, vereinbar. Schuller war bislang der Meinung, dass die App eigentlich die Kontaktketten über möglichst effizientes Testen unterbrechen sollte. "Aber das war anscheinend nur unsere Meinung."

Das Thema Datenschutz wurde laut Schuller komplett überarbeitet und noch einmal den Erfordernissen so angepasst, dass die Sicherheit lückenlos, unproblematisch und mit den Vorschriften konform hätte sein können. Eine Gelegenheit, das neue Konzept zu präsentieren, hat audEERING nicht mehr bekommen. Zwischen November 2020 und März sei erheblicher Aufwand in das Projekt gesteckt worden, um es dem Gesundheitsministerium zu präsentieren und dessen Anforderungen gerecht zu werden. Die Erforschung sollte sogar ursprünglich gefördert werden. Das wurde schließlich mit der Begründung abgelehnt, das Produkt sei nicht marktreif.

Wozu ist Forschungsförderung da? "Ohne Forschung kann man ein Produkt auf diesem Gebiet nicht verbessern", antwortet Schuller.  Im Gespräch war ein niedriger sechsstelliger Euro-Betrag. Zum nicht bezifferten Eigenanteil von audEERING kamen Zuwendungen von Universität sowie der Universitätsklinik (ebenfalls sechsstellig) als Vorleistung zusammen. Die Vorstandschefin gibt nicht auf: "Wir machen weiter, hoffen auf weitere Datenspenden und verbesserte Ergebnisse."



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